Umweltsimulation mit Tabellenkalkulation
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Einführung
Problem: Soziale
und wirtschaftliche Interaktionen finden in hochkomplexen und kaum
durchschaubaren Welten statt. Begriffe wie Treue, Fairness, Mut, Feigheit,
Aggression, Kooperation, Egoismus und Nächstenliebe spielen eine große aber
schwer einschätzbare Rolle.
Ziel: Es
ist zu klären, welche Grundmuster unser Verhalten bestimmen, was das Wesen der
genannten (Un-)Tugenden ist, und welchen Nutzen sie in bestimmten
Zusammenhängen haben. Diese Lektion stellt die Grundlagen für die vertiefte
Behandlung in den folgenden Lektionen bereit.
Methode: Die
Interaktionen werden auf Grundmuster reduziert, wie sie sich in einfachen
Spielen wiederfinden. Es werden einige dieser
einfachen Spiele gespielt und mit elementaren Mitteln analysiert.
Ein Paradoxon der Spieltheorie
Zwei Personen P und Q spielen nach
folgenden Regeln: Beide erheben gleichzeitig einen oder zwei Finger; ist die
Gesamtzahl der hochgehaltenen Finger gerade, so zahlt Q an P, ist
sie ungerade, so zahlt P an Q; gezahlt wird immer soviel, wie
Finger hochgehalten werden. Die Auszahlungsmatrix für die Zahlungen, die Q an
P zu leisten hat, sieht demnach so aus:
Q P |
ein Finger |
zwei Finger |
ein Finger |
2 |
-3 |
zwei Finger |
-3 |
4 |
Offenbar ist es - unter der Voraussetzung, dass
das Spiel fortlaufend wiederholt wird - sinnvoll, den Mitspieler im Unklaren zu
lassen, wie viele Finger man heben wird. Das gelingt beispielsweise dadurch,
dass man möglichst regellos mal einen und mal zwei Finger hochhält.
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei das
Spiel gerecht: Wenn die möglichen Kombinationen (1, 1), (1, 2), (2, 1), (2, 2)
- in Klammern stehen die Zahlen der gehobenen Finger von Spieler P und
Spieler Q - gleich häufig auftreten, ist die Gewinnerwartung eines jeden
der Spieler gleich null. Dennoch ist das Spiel nicht gerecht, wie gleich
gezeigt werden soll. (Die Tatsache, dass dieses auf den ersten Blick gerecht
erscheinende Spiel ungerecht ist, bezeichnet man als Paradoxon der Spieltheorie.)
Um die Ungerechtigkeit aufzuspüren, machen wir
eine kleine Simulation. Wir gehen davon aus, dass die Spieler jeweils eine gemischte
Strategie wählen. Eine gemischte Strategie wird durch die
Wahrscheinlichkeit festgelegt, mit der ein bestimmter Spielzug gewählt wird.
Sei q die Wahrscheinlichkeit, mit der Q einen Finger hochhält
(1 - q ist dann die Wahrscheinlichkeit dafür, dass er zwei
Finger hochhält). Spieler P wählt einen Finger mit der
Wahrscheinlichkeit p.
In die Tabelle können Sie die gewählten Strategien
p und q eintragen. In den Ergebnisfeldern erscheinen dann jeweils
die Gewinne, die der jeweilige Spieler auf lange Sicht erhält (Erwartungswert
des Gewinns). Da es sich um ein Nullsummenspiel handelt, verliert der eine, was
der andere bekommt. In die Eingabefelder dürfen Sie Zahlen wie 0.75, aber auch
Brüche wie 3/4 (oder allgemeine JavaScript-Formeln) eintragen. Da es sich um
Wahrscheinlichkeiten handelt, sind nur Werte von 0 bis 1 sinnvoll.
Wählt der Spieler Q die Strategie q = q*
= 7/12, kann Spieler P machen was er will. Auf lange Sicht wird er je Spiel im
Mittel einen Verlust von 1/12 hinnehmen müssen.
Mit dem Minimax-Prinzip
aus der Theorie der Nullsummenspiele lässt sich die optimale Strategie
herleiten (von Neumann, 1944):
Für den vorsichtigen Spieler ist jene Strategie am besten, welche seinen
maximalen Verlust (der bei optimaler Verteidigung eintritt) minimiert (Székely, 1990, S. 54 ff.).
Das Fingerspiel ist ein Nullsummenspiel:
Was der eine Spieler gewinnt, verliert der andere und umgekehrt. Und wie wir
gesehen haben, kommt es sehr wohl darauf an, ob man Zeilenspieler (P) oder
Spaltenspieler (Q) ist. Wir werden uns hier nicht weiter mit Nullsummenspielen
beschäftigen.
Das Falken-Tauben-Spiel
Das soziale Verhalten lässt sich eher mit den symmetrischen
Spielen modellieren: Die Auszahlung an einen Spieler hängt bei
symmetrischen Spielen nur von seiner Strategie und der des Gegenspielers ab,
und nicht etwa davon, ob er Zeilen- oder Spaltenspieler ist. Das
Falken-Tauben-Spiel ist ein solches symmetrisches Spiel.
Die Beschreibung des Verhaltens einer
Modellpopulation aus lauter Falken und Tauben ist dem Buch von Dawkins (1978) entnommen: "Nehmen wir an, es gäbe
in einer Population einer speziellen Art lediglich zwei Kampfstrategien, die
als Falke und Taube bezeichnet werden... Alle Lebewesen unserer
hypothetischen Population sind entweder Falke oder Taube. Falken kämpfen so
heftig und ungezügelt wie sie nur können und räumen das Feld erst, wenn sie
ernstlich verletzt sind. Die Tauben drohen lediglich auf eine würdevolle,
konventionelle Weise und verletzen niemals jemanden. Wenn ein Falke mit einer
Taube kämpft, so rennt die Taube schnell fort und wird daher nicht verletzt.
Wenn ein Falke mit einem Falken kämpft, so hören sie erst auf, wenn einer von
ihnen ernstlich verletzt oder tot ist. Trifft eine Taube auf eine andere Taube,
so wird niemand verletzt; jede stellt sich der anderen gegenüber in Positur und
so stehen sie geraume Zeit, bis es eine von ihnen müde wird oder den Entschluss
fasst, sich nicht länger aufzuregen, und daher klein beigibt... Wir setzen
jetzt rein willkürliche Punktzahlen, die wir an die Kämpfenden verteilen, fest.
Beispielsweise 50 Punkte für einen Sieg, 0 Punkte für Verlieren, -100 für eine
ernste Verletzung und -10 für Zeitverschwendung bei einer langen
Auseinandersetzung...
Nehmen wir an, wir haben eine Population, die
ausschließlich aus Tauben besteht. Wann immer sie kämpfen, es wird niemand
verletzt. Die Auseinandersetzungen bestehen aus langwierigen rituellen
Turnieren, vielleicht aus Wettkämpfen im Anstarren, die erst aufhören, wenn
einer der Rivalen klein beigibt. Der Sieger erzielt dann 50 Punkte dafür, dass
er die umstrittene Ressource gewonnen hat, aber er zahlt eine Strafe von -10
für Zeitverschwendung bei einem langen Anstarr-Match; alles in allem erziehlt er also 40 Punkte. Der Verlierer wird ebenfalls
mit einer Strafe von -10 für Zeitvergeudung belegt. Im Durchschnitt kann jede
einzelne Taube erwarten, dass sie die Hälfte der Auseinandersetzungen gewinnt
und die Hälfte verliert. Ihre durchschnittliche Prämie pro Auseinandersetzung
ist daher das Mittel von +40 und -10, das heißt +15. Daher scheint es jede
einzelne Taube in einer Population von Tauben recht gut zu gehen." Die
weitere Analyse führt zu folgender Spielmatrix für jeden der Spieler.
Gewinn |
||
Strategie
des Gegners Eigene Strategie |
Taube |
Falke |
Taube |
aTT = 15 |
aTF = 0 |
Falke |
aFT = 50 |
aFF = -25 |
Varianten des Falken-Tauben-Spiels
Zwei Autos rasen auf einer - ansonsten leeren -
Landstraße aufeinander zu. Beide Fahrer steuern ihren Wagen in der Straßenmitte
auf Kollisionskurs. Verlierer ist, wer als erster ausweicht. Die Spielmatrix
eines solchen Feigling-Spiels könnnte so aussehen: aTT
= 1, aTF = 0, aFT
= 2, aFF = -1. Hier steht T für die
Strategie "Ausweichen" und F für die Strategie "Nicht ausweichen".
Dem Buch von Mehlmann (1997, S. 87)
entnehme ich die folgende Anekdote von Albert W. Tucker: "Bonnie und Clyde
werden nach einem missglückten Banküberfall geschnappt und in verschiedenen
Zellen untergebracht. Der Staatsanwalt kann den beiden, falls sie nicht
gestehen sollten, nur verbotenen Waffenbesitz nachweisen. Dafür gibt es drei
Jahre Gefängnis. Falls einer der beiden standhaft bleibt, der andere jedoch
gesteht, so wird der Geständige, als Zeuge der Anklage, ein Jahr ausfassen,
sein Stehvermögen beweisender Partner jedoch 9 Jahre. Gestehen beide, so müssen
sie 7 Jahre absitzen. Vor diese Wahl gestellt, wie werden sie sich
verhalten?"
Jetzt wird Treue mit T und der Verrat mit F
bezeichnet. Es ergibt sich als Spielmatrix eine Variante des sogenannten Gefangenen-Dilemmmas:
aTT = -3, aTF
= -9, aFT = -1, aFF
= -7.
Das Entscheidungsproblem für die Spieler ändert
sich nicht, wenn man zu jedem Element der Spielmatrix eine feste Zahl addiert
oder wenn man jedes Element mit einer bestimmten Zahl multipliziert. Ein
hochinteressantes Beispiel für das Gefangnen-Dilemma
liefert das Paradoxon von Braess.
Die von den Mitspielern ausgewählten Strategien
befinden sich im Gleichgewicht, wenn keiner der Spieler eine bessere
Strategie finden kann, solange der Kontrahent bei seiner Strategie bleibt (Rosenmüller, 1994). Die mit dem Minimax-Prinzip
gefundenen Strategien im Fingerspiel befinden sich im Gleichgewicht, wie man
leicht einsehen kann. Wie sieht es beim Falken-Tauben-Spiel aus?
Das Minimax-Prinzip (in
geeignet abgewandelter Form) bringt hier keine vernünftigen Resultate: Wählt
der erste Spieler eine reine Tauben-Strategie, wird der zweite eine reine
Falken-Strategie wählen. Diese Verteilung ist ein Gleichgewicht: Keiner von
beiden kann - ohne Schaden zu nehmen - diese Strategie ändern, solange der
Kontrahent bei seiner bleibt. Auch gemischte Strategien bringen da keinen
Vorteil. Der vorsichtige Spieler wird - gemäß Minimax-Prinzip
- die reine Taubenstrategie wählen. Wenn beide vorsichtig sind, kommt es zu
einem Treffen von Tauben. Diese Strategien sind aber nicht im Gleichgewicht. Es
kommt darauf an, wer zuerst auf die Idee kommt, ins Falken-Lager zu wechseln.
Die Situation ist hier also ganz anders als beim Fingerspiel
Aber es gibt auch im Falken-Tauben-Spiel gemischte
Strategien, die im Gleichgewicht sind. Die wollen wir jetzt bestimmen.
Seien x1 und x2
die Strategien (Taubenanteile) der Spieler 1 bzw. 2. Die Gewinnerwartung des
ersten Spielers ist dann gleich
u(x1,
x2) = aFF + (aFT - aFF)× x2
+ x1× (aTF - aFF + (aTT - aFT - aTF + aFF)× x2)
Wir nehmen einmal an, der zweite Spieler wählt die
Strategie x2 = (aTF
- aFF)/(aFT + aTF - aTT - aFF).
Das macht in der Formel für u(x1, x2)
den Koeffizienten von x1 zu null. In diesem Fall
kann der erste Spieler seine einmal gewählte Strategie nicht mehr verbessern.
Da das Spiel symmetrisch ist, gilt dassselbe für den
zweiten Spieler. Die durch x1 = x2 = (aTF - aFF)/(aFT
+ aTF
- aTT
- aFF)
definierten Strategien x1 und x2 befinden
sich im Gleichgewicht.
Gleichgewichte bei gemischten Strategien: Im
Falken-Tauben-Spiel ist der Taubenanteil gleich 5/12. Im Feigling-Spiel
ist der entsprechende Wert gleich 1/2. Beim Gefangenen-Dilemma sind nur die
reinen Falken-Strategien im Gleichgewicht; gemischte Gleichgewichtsstrategien
gibt es nicht.
Optimale Strategien und deren Gefährdung
Wir wählen für beide Spieler dieselbe Strategie x
und fragen nach dem optimalen Wert, also nach derjenigen Strategie, die für
alle den größtmöglichen Gewinn verspricht. Der von x abhängige mittlere
Gewinn f(x) eines jeden Spielers ist gegeben durch f(x)
= u(x, x). Auf der Seite "Grundrelationen"
des Excel-Arbeitsblatts FalkeTau.xls ist diese Funktion zusammen mit ihren Komponenten grafisch
dargestellt.
Die Funktion nimmt für x = ((aFT+aTF)/2 - aFF)/(aFT+aTF
-aTT -aFF) ihren maximalen Wert an. Beim
Falken-Tauben-Spiel ist dieser Wert gleich 5/6. Wählen beide Spieler diese
Strategie, dann fahren sie gut damit.
Diese Strategien sind jedoch nicht im Gleichgewicht.
Das heißt, jeder kann sein Ergebnis verbessern, solange der Kontrahent bei der
gewählten Strategie bleibt. Das Optimum ist nur bei Kooperation der Spieler
haltbar. Ansonsten driftet die Angelegenheit hin zum Gleichgewicht.
Allgemein gilt: Wenn optimale Strategien nicht
zugleich im Gleichgewicht sind, dann sind sie durch Verrat gefährdet.
Ein gruppendynamisches Spiel
Das Falken-Tauben-Spiel (Register
"Spiele" des Excel-Arbeitsblatts FalkeTau.xls) wird in der "Jeder gegen den Rest der Welt"-Variante (Variante 1) nach folgenden Regeln gespielt:
Das Verhalten der Mitspieler wird protokolliert. Der Ablauf des Spiels wird in der Gruppe diskutiert.
Anregungen und Übungen
1. Spielen Sie das Fingerspiel mit verschiedenen Strategien durch und versuchen Sie Gesetzmäßigkeiten herauszufinden. Stellen Sie Hypothesen auf und versuchen Sie diese zu widerlegen.
2. Stellen Sie eine Hypothese über den Spielverlauf beim Falken-Tauben Spiel auf. Wodurch sind die Gleichgewichtspunkte charakterisiert? Handelt es sich um Gleichgewichte? Wieviele Gleichgewichtspunkte gibt es?
3. Geben Sie die Gewinnerwartung des Spielers P beim Fingerspiel als Funktion V(p, q) an. (Eine graphische Darstellung finden Sie im Arbeitsblatt Fingerspiel.xls.)
4. Zeichnen Sie die Funktion f(q) = maxp V(p, q). (Hierbei meint maxp, dass das Maximum über alle Werte von p zu nehmen ist.) Machen Sie sich eine Zeichnung. Nutzen Sie aus, dass die Funktion V(p, q) linear in p ist.
5. Das Minimax-Prinzip besagt, dass Spieler Q diejenige Strategie q wählt, für die f(q) minimal wird. Beweisen Sie das oben vorweggenommene Ergebnis für das Fingerspiel.
6. Leiten Sie ganz analog zur Vorgehensweise beim Fingerspiel die MiniMax-Strategie des Falken-Tauben-Spiels her.
Bamberg, G.; Coenenberg, A. G.:
Betriebswirtschaftliche Entscheidungslehre. Verlag Franz Vahlen,
München 1989. Enthält eine für die Zwecke dieses Kurses hinreichend
gründliche Darstellung der Spieltheorie.
Dawkins, R.: Das egoistische Gen. Springer-Verlag,
Berlin, Heidelberg 1978. Populärwissenschaftliche Darstellung des Falken-Tauben-Spiels
(S. 83 ff.)
Mehlmann, A.: Wer gewinnt das Spiel. Spieltheorie in Fabeln und Paradoxa. Vieweg, Braunschweig 1997. Enthält Anregungen und ist
unterhaltsam. Manches wird allerdings erst verständlich, wenn man systematische
Einführungen - wie beispielsweise Bamberg/Coenenberg
- zu Rate zieht.
Mérö, L.: Optimal entschieden? Spieltheorie und die Logik unseres Handelns. Birkhäuser, Basel 1998. Ein herrliches Lesebuch, das viele Anregungen und überraschende Gedanken enthält. Hätten Sie gedacht, dass "in der Welt, in der die Goldene Regel gilt, ... ein Gefangenendilemma eine lebensferne Konstruktion ist, die nicht wirklich existiert"(S. 77)?
Neumann, J. von;
Morgenstern, O.: Theory of Games and Economic Behavior.
Princeton University Press, Princeton, New Jersey 1944 (renewed 1972). Dieses Werk hat die moderne Spieltheorie
begründet.
Rosenmüller, J.: Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften - die Spieltheorie
wird hoffähig. Spektr. d. Wiss. (1994) 12, 25-33.
Bericht über die Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften 1994
an John F. Nash, John C. Harsanyi und Reinhard
Selten.
Smith,
J. M.: Evolution and the Theory of Games. Cambridge University Press, 1982. Ausführliche und mathematisch
orientierte Diskussion des Falken-Tauben-Spiels. (Der Autor John Maynard
Smith ist der Erfinder des Spiels.)
Székely, G. J.: Paradoxa. Klassische und neue Überraschungen aus Wahrscheinlichkeitsrechnung und mathematischer Statistik. Harri Deutsch, Thun, Frankfurt am Main, 1990
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© Timm Grams, 27.9.1999 (Literaturverzeichnis ergänzt am 29.04.2007)